orte

orte-Beiträge von Erwin Messmer

Nr. 84 Ein Plädoyer statt ein Essay
Nr. 85 Editorial zur EWR-Nummer „Schweiz – Europa 1: 0“. Händeringende Notizen eines Gläubigen (zum EWR-Beitritt)
Gedicht: Landi Diamant...
Nr. 87 Poeteische Heinzelmännchen im blauen Übergewändchen (Bb)
Nr. 88 fund-orte über Jürg Schubiger. Schreibend die Dinge vorzeigen.
Nr. 89 Unkenrufe aus dem Aargau und deren unerwartet schnelle Bestätigung aus Zürich. Eine Zitatensammlung und Randbemerkungen des Befremdens
(über das Verhältnis von Literatur und Politik)
Nr. 91 Über eine schön wilde Literaturepoche (Bb) (Expressionismusbuch)
Nr. 93 Mediterraner Nachmittag in Kieler Zweizimmerwohnung . Autoren-Doppelportrait Annemarie Zornack und Hans-Jürgen. Heise)
Nr. 95 Haikus
Portrait aus Worten (Bb) Über John Berger
Nr. 97 Bekenntnis zum Leben (Bb) Über Anne Sexton (Bb)
Über das Meer unter Annemarie Zornacks Kopfkissen (Bb)
Nr. 98 Zwei Gedichtbände und ein paar Telefonate Autorenportrait Walter Gross
Nr. 99 Gedicht „Zeugen – rrelativ schweigsam“ (Kuhnummer)
Nr 100 Auf, Strahler, in die Geröllhalden! Poetologische Studie.
Nr. 101 Daniel Zahnos bravouröser Erstling (Bb)
Nr. 102 Neugierige Rose, geduldige Rose (Bb) (Alberto Nessi)
Nr. 103 Zur Werkauswahl in 5 Bänden von Kurt Marti
Nr. 105 In memoriam Mani Matter
Nr. 107 Staad SG am Bodensee. Fallbeispiell einer Vernichtung
Nr. 108 Bruckner und Bucher. Zum 60. Geburtstag von Werner Bucher.
Nr. 110 Editorial zur Hans Erpf – Nummer. Herausgeber dieser Nummer.
Nr. 111 Häppchen, Schwerverdauliches, Bandwürmer - und Gedichte (Bb) Über das Jahrbuch der Lyrik
Nr. 112 Kutteln, Kalbskopf und poetisches Urgestein. Autorenportrait Raphael Urweider
Nr. 113 Marcel Proust und Moritz Meister (Zündorte)
Nr. 117 Erlebnis einer Lesereise (Bb) Über Grete Weil
Auf einem andern Blatt Papier (Essay zum Problem Jung – Alt in der Literaturszene
Nr. 118 Wut, Wortstaccato und schnelle Fantasie. Einführung zur Horst Bingel Nummer
Nr. 119 Eine Angelegenheit für Faulpelze (Zündorte)
Nr. 123 Lyrik in bibliophiler Aufmachung für das schmale Portemonnaie (Bb)
Solothurner Marginalien, nachgereicht (Zündorte)
Nr. 124 Anleitungen und Abenteuer (3 Gedichte aus „Anleitung zum Brettspiel)
Nr. 126 Editorial zur Tiroler Nummer. Herausgeber dieser Nummer.
Nr. 129 Leerstellen, wo Patronenhülsen liegen (Bb) über Michael Madson
Nr. 130 Warum zum Kuckuck (usw., s. unten) (Zündorte)
Nr. 131 Bush serviert keine Pasta
Nr. 134 Das nackte Leben (Bb) Über Horst Samson
Nr. 135 Die Sache mit dem Humor (Zündorte)
Nr. 137 Leben gefällt mir (EM über Max Frisch)

Nr. 138 Editorial "City Schweiz" (Herausgeber dieser Nummer)
NR.145 Edtorial zur Fussball-Nummer; Gedicht "Ein paar Fragen"; Einführung zu Urs Frauchigers Beitrag. Mitherausgeber dieser Nummer.
Nr. 146 Sieben Gedichte; Kurzeinführung in Barbara Trabers Schreibwelt.
Nr. 149 Robert Schumann und der offene Schluss. Eine Studie zu Schumanns Liedtechnik.
Nr. 152 Herausgeber dieser Nummer. Editorial zu "Deutschsprachige Bündnerautoren". Autorenportrait Peter Horst Neumann.
Nr. 154 Der Nachtdichter Wolfgang Bächler (Autorenportrait und Nachruf).

Bb: Buchbesprechung.
Zündorte: Kolumnen zum aktuellen Literaturbetrieb

Alle hier aufgeführten orte-nummern sind noch erhältlich und können bei folgender Adresse zum stückpreis von Fr. 20.- (bis Nr. 100.- bzw. Fr. 14.- (ab Nr. 101) bestellt werden:
orte. Schweizer Literaturzeitschrift. Erscheint fünfmal jährlich.
Adresse: orte.Verlag, Rütegg 278, CH 9413 Oberegg. Tel. /Fax 0718881556. www.orteverlag.ch und www.wernerbucher.ch
E-mail: info@orteverlag.ch
Abonnement Schweiz CHF 60.-
Abonnement Ausland CHF 72; Euro 41
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Gönnerabo: CHF 120; Euro 72
Einzelnummer CHF 14; Euro 8

Textbeispiele

Solothurner Marginalien

Die Solothurner Literaturtage 2001 waren nicht nur für Literaturinteressierte, sondern auch für den beobachtenden Zaungast sehr ergiebig. Der hatte sich eigentlich nichts dabei gedacht, als die deutsche Erfolgsautorin Hei. in der Sendung Reflexe auf DRS 2 ihrer Vorfreude Ausdruck gab, ihren lieben Freund Bi., den in Solothurn ansässigen Schweizer Vorzeigeautor, endlich wieder einmal zu sehen. Aus dem Programmheft war dann sogar zu erfahren, dass Bi. den Auftritt seiner Freundin Hei. persönlich moderieren würde. Als der Zaungast sich am Samstag vor der Mittagshitze in die hinterste Ecke des Restaurant „Kreuz“ hinter einem leeren Tisch verschanzte, gewahrte er am Nebentisch Bi. im heiteren Gespräch mit seinem Bieler Dichterkollegen Stei. und zwei ihm unbekannten Männern. Plötzlich kreuzte der Kabarettist und Schriftsteller Hoh. in Begleitung einer mädchenhaft wirkenden Frauengestalt auf und steuerte mit dieser zielstrebig auf den Dichtertisch zu. Aha, endlich sieht man auch mal Hoh.‘s Frau, die Mundartlyrikerin, dachte sich der Zaungast, doch da legte Bi. seine Gauloise (neuerdings mit Filter!) hastig in den Aschenbecher, schnellte von seinem Sessel hoch, und schon lagen sich Dichterin und Dichter unter grossem Hallo in den Armen. Langes Tableau. Was am Radio angekündigt worden war, gab’s hier nun life, doch von (fast) niemandem bemerkt, zu erleben: das Wiedersehen! Als sich Bi. und Hei. aus ihrer Umschlingung gelöst hatten, war endlich Hoh. mit seiner Begrüssung an der Reihe. „Denn umarmi di ietz grad au“, sagte er und stürzte sich beherzt in Bi’s Arme. Nun wurde auch der letzte Stuhl, der am Tisch des Zaungastes noch übrig geblieben war, benötigt. Artig hiefte dieser ihn über den Tisch direkt in Hei.‘s ausgestreckte Hände. „Aber nun sind Sie ja ganz allein“, rief ihm Hei. in mitfühlend lamentierendem Tone zu, worauf ihr der Zaungast zu verstehen gab, dass er dies auch vorher, in Gesellschaft dieses leeren Stuhles, schon gewesen sei.

Lesung von Hei. 700 Leute im Landhaussaal, wie man später der Presse entnehmen kann. Bi. führte sie also ein. „Ich bin jetzt hier zu Hause!“ war das Leitmotiv seiner wie immer launigen und pointenreichen Rede. Hei. ist in ihren Geschichten zu Hause, und sie war es auch sogleich in diesem Saal. Im Handumdrehen gewann sie die Herzen der Zuhörer mit einer umwerfend komischen und zugleich rührenden Kindergeschichte. Aber dann, als sie eine Viertelstunde vor Schluss noch mit einer zweiten Erzählung anfing, die dann nochmals drei Viertelstunden dauerte, hatte man doch das Gefühl, dass sie langsam dazu überging, sich hier eine Spur allzu heimisch zu fühlen. Sie überzog eine halbe Stunde und brachte den ganzen Programmablauf gründlich durcheinander. Anders als am Vortag der schreibende Städteplaner Boe., der auch zwei Erzählungen vorlas, und was für fulminante, jedoch nach der ersten dem Moderator die scheue Frage zuflüsterte: „Hämmer no Ziit?“ Wir hatten noch, und es war ein Glück gewesen.

Im Landhaussaal waren nicht immer 700 Leute zugegen. Am Freitagabend um halb neun, zur besten Lesezeit also, verloren sich gerade mal 60 Interessierte im Meer der leeren Stühle. Es las der junge Schweizer Stau. aus seinem Erstling vor. Der knapp Dreissigjährige wurde vom Moderator in der Einführung als leicht verrückt hochstilisiert, doch was der selbstbewusste Debütant in der Folge zum besten gab, war doch eher banal, zynisch, selbstverliebt und ausserdem nicht von allerbestem Geschmack. Oder wie soll man den absichtlich überfahrenen Hund, dessen Eingeweide auf der Strasse genüsslich als Hundelandkarte geschildert werden, einordnen? Oder die überfahrenen Frösche, in Klarsichtmappen geordnet, die ein gern durchgeblättertes Bilderbuch ergeben? Oder die literarische Annäherung an Fürze, die Pissoirbesuchern entweichen und dergleichen mehr?

Der Zufall wollte es, dass unser Zaungast am folgenden Morgen in der Lesung des Österreichers Schro. just hinter dem jungen Dichterfürsten des Vorabends zu sitzen kam. Während Schro.‘s poetischen Ausführungen über das Reich der Engel unterhielt sich jener. unentwegt mit seinem Sitznachbarn. Hund und Frosch waren ja schon abgehandelt. Engel waren offensichtlich seine Sache nicht.

Am Ende des Festivals hörte unser Zaungast der traurigen Geschichte über einen sterbenden Cousin zu, die der Autor Am. in Ausschnitten vorlas. Eine geschilderte Szene wurde im nachträglichen Gespräch von einer jungen Frau beherzt angefochten. Das (autobiographisch geprägte) Erzähler-Ich hatte als Knabe im Wald einmal ein Liebespaar überrascht. Der Mann schreckte auf und erhob sich steifen Gliedes, während das Kind das schwarze Loch zwischen den Beinen der Frau anstarrte. Ein Bild, das dem Protagonisten Zeit seines Lebens im Hirn eingebrannt geblieben sei. Die Kritikerin machte nun geltend, dass eine Frau in einer solchen Situation die Beine nicht gespreizt lasse, sondern diese in aller Regel reflexartig zusammenziehe. Der leicht verlegene Dichter bestritt diese Sicht der Dinge zwar nicht, beharrte aber auf dem Erlebnis und auf dem Bild in seinem Hirn. Ein schönes Beispiel dafür, wie Literatur die Realität überhöhen und die nachschaffende Fantasie nicht geschaute Bilder im Nachhinein auf gleichsam archetypischer Ebene ergänzen kann.

Als literarisches Schlussbouquet dann der ungeheuer lustige deutsche Dichter Ger. Was er einem zahlreichen und oft nur höflich lachenden Publikum unter die Nase rieb, reimte sich meist aufs trefflichste und zielte virtuos am wirklichen Leben, (aber auch an wirklicher Dichtung) vorbei. Ganz im Gegensatz zum persönlichen Schlussbouquet, das dem Zaungast am Ende dieses Lesemarathons noch zufiel, und das ihm als Bild ewig im Hirn haften bleiben wird: Auf dem Weg zum Bahnhof schritt er an einem Paar vorbei, das nach dem Überqueren der Aarebrücke, also am andern Ufer des Flusses (!) stehen geblieben war. Die Frau zog den Mann an sich und küsste ihn. So standen sie lange in stummer Umarmung, und beim Mann handelte es sich um den Dichter Am., der eben noch die traurige Geschichte vom Sterben seines Cousins vorgetragen hatte. Umarmungen, zuerst jene stürmischen, und jetzt diese innige, bildeten gleichsam die Klammer dieser Literaturtage. Das wirkliche Leben war dabei, wieder an Terrain zu gewinnen.

Erschienen in "orte" Nr. 123, Oktober 2001, "La réserve du patron"

Ornithologe und Vogel Der Lyriker Peter Horst Neumann

Ein fund-orte von Erwin Messmer

Der junge deutsche Professor für Literatur an der Uni mit seiner tenoral singenden Stimme hatte stets gegen überfüllte Hörsäle anzureden. Seine Vorlesungen waren beliebt. In geschliffenstem Deutsch servierte er uns essayistische Kabinettstücke am laufenden Band, ob es sich nun um das (von ihm beklagte) affirmative Element in Goethes Lyrik oder um den Begriff der Gerechtigkeit bei Kleist handelte. Dass hier ein Literaturwissenschaftler mit der Seele eines Künstlers am Werk war, fiel sogleich auf, obwohl damals niemand wusste, dass er Lyrik schrieb. Damit weibelte er nicht. Aber er organisierte Lesungen mit grossen Zeitgenossen. Ihm hatten wir beispielsweise die Begegnung mit Günter Eich zu verdanken, der nach seinem Auftritt mit uns im kleinen Kreis, bei Wienerwürstchen, Brot und Bier (er hätte zwar aus gesundheitlichen Gründen auf letzteres verzichten müssen) über den Tod sinnierte.
Neumanns Annäherungen an die Deutsche Literatur waren oft intuitiv und überraschend, aber natürlich stets abgesichert durch fundierte literaturgeschichtliche Kenntnisse. Neben seinen Vorlesungen hatten diejenigen seines Kollegen Zeller und dessen Frau, die beide mit Neumann zusammen den literarischen Laden der Fakultät schmissen, einen schweren Stand: Ein Wissenschaftler-Ehepaar wie's im Buch steht, mit nüchtern pragmatischem Ansatz und breitem, zürcherisch gefärbtem Hochdeutsch. Es ergänzte Neumanns Auftritte allerdings aufs idealste. Am besten besuchte man die Vorlesungen und Seminarien beider "Parteien", doch wenn man auswählen musste, entschied ich mich stets für Neumann.
Vor kurzem stiess ich im Internet auf seinen Namen und nahm staunend davon Kenntnis, dass Peter Horst Neumann ein zeitgenössischer und mehrfach mit Preisen ausgezeichneter Lyriker sei. Ich begann mich in sein Werk zu vertiefen, mit wachsendem Interesse und zunehmendem Gewinn.

Was bei der Lektüre von Neumanns Gedichten sogleich auffällt, ist sein breites thematisches Spektrum. Kein Gegenstand, und sei er noch so klein und unscheinbar, keine Situation, kein philosophischer Gedanke ist ihm zu schlecht für die dichterische Auseinandersetzung, wenn sie ihn als schreibendes Subjekt nur persönlich berühren und in ihm etwas auszulösen vermögen. Und man hat wirklich bei jedem Gedicht Neumanns den Eindruck, dass es ein persönliches, subjektives sei, eins, das seinen Ursprung im inneren Berührt- und Angerührtsein des Schreibenden hat. Es gibt es thematische Schwerpunkte: die Natur, das Erreisen und Erwandern von Landschaften, die griechische Mythologie, Dichter (lebende, tote), Musik, Komponisten (tote), ganz allgemein der Mensch, und somit auch die Liebe. Aufzählen führt nicht weit: selber lesen ist angesagt, die Reise in die motivische Unendlichkeit mit eigenen Leseaugen antreten!
Stilistisch ist durch alle fünf zwischen 1994 und 2006 erschienenen Gedichtbände ein sehr hoher Anspruch an sprachliche Präzision und Knappheit festzustellen. Man hat den Eindruck, dass hier einer mit Spachtel, Hammer und Meissel am mächtigen Block des Sprachwiderstands arbeitet, dass dabei die Funken der Poesie nur so stieben, der Schreiber sich jedoch mit ihnen nicht so schnell zufrieden gibt und das Schreibwerkzeug nicht eher aus der Hand legt, als bis der amorphen Masse des Sprachmaterials die klarste Struktur und dem Gedankenfluss grösstmögliche semantische Plastizität abgerungen ist: Gedankenfisch /// So zapplig und klein / und hat meinen Haken geschluckt, / was will der im Eimer, / den werf ich ins Wasser zurück, / der soll, wenn er's überlebt / wiederkommen in satter Gestalt.
Rhythmisch sind die Verse geschmeidig, sie fliessen natürlich, und für den einen oder andern Leser und Kenner zeitgenössischer Lyrik sind viele von Neumanns Gedichten sogar etwas gewöhnungsbedürftig: der freie rhythmische Fluss nähert sich nicht selten klassischen Versmassen, was zweifellos den Literaturprofessor verrät. Doch gerade in diesen Gedichten ist der Umgang mit der syntaktischen Vielfalt der Sprache von besonders stupendem Können. Virtuos, oft spielerisch in Ansatz und Durchführung, dabei knapp und bis ins Letzte durchrhythmisiert, das sind einige der Markenzeichen Neumannschen lyrischen Schreibens.
Natürlich liessen herabmindernde Vorurteile – ein Literaturprofessor, der selbst schreibt! – im Reigen der Kritik nicht lange auf sich warten. In einem Gedicht nimmt der Kritisierte den Faden in souveräner Weise auf und kontert mit dem Anfang aus einer Geschichte in Hildesheimers "Lieblosen Legenden:" (ohne Quellenangabe, eine respektvolle Referenz an den Kenner, der sich hinter dem grossen Kritikernamen verbirgt): Mutabor / Der Kritiker Jürgen P. Wallmann, / der mich als einen Vogelkundigen / kennt, hat sich nach flüchtiger / Sichtung meiner Gedichte / zu der Behauptung verstiegen / ein Ornithologe sei eben doch kein Vogel. // Dagegen erkläre ich hier von oben herab: / "Im September vorigen Jahres / begab ich mich in mein Schlaf- / zimmer, öffnete das Fenster weit, / verzauberte mich und flog davon. / Ich habe es nicht bereut". Wie entwaffnend! Der als Ornithologe und Möchtegern-Vogel verunglimpfte Dichter kontert ausgerechnet, und dies nicht ohne Selbstironie „von oben herab“, mit einem Zitat aus der Weltliteratur, das ihn abermals als "Ornitholgen" ausweist und ihm als Dichter den Vorwurf einbringen könnte, er schmücke sich buchstäblich mit fremden Federn. Eine souveräne und poetisch geglückte Art, dem Kritiker seine Meinung zu lassen und ihn gleichzeitig zu widerlegen!
Ein Dichter kann sprachlich noch so virtuos sein, rhythmisch noch so beschlagen: wenn ihm die überraschenden Bilder nicht einfallen, wenn er sich mit unerwarteten Assoziationen schwertut, ist er kein wirklicher Dichter. Gerade auch unter diesem Blickwinkel zähle ich Neumann zu den wirklichen. Schon die Titel der Gedichtbände ettikettieren seine hohen lyrischen Qualitäten, etwa "Pfingsten in Babylon", "Die Erfindung der Schere" oder "Was gestern morgen war." Geglückte und damit den Lyrikleser beglückende Metaphern wie die folgende im Gedicht Erster Frost sind bei Neumann keine Seltenheit: Oblate, / dem Teich auf die Zunge gelegt, // wie sie zittert / vom Kiemenschlagen / der Fische.
Aber alle Dichtkunst wäre doch schliesslich belanglos und eine den Augenblick nicht überdauernde Spielerei, wenn dahinter nicht ein Mensch mit seinen Hoffnungen und Ängsten stünde, mit seiner Liebe zum Leben und zur Umwelt, in die er nolens volens hineingestellt wurde, mit der leidenschaftlichen Anteilnahme am Geschick seiner Mitmenschen, nicht nur der ihm bekannten. Ein immer wiederkehrendes Thema in Neumanns Gedichten ist die Geschichte, besonders auch die deutsche. 1936 im oberschlesischen Städtchen Neisse geboren, hat er als Kind die Katastrophe des zweiten Weltkriegs am eigenen Leibe miterlebt, wenn auch sein Vater, wegen eines Klumpfusses (auch der wird lyrisch thematisiert) vor dem Kriegsdienst verschont blieb. Noch immer sind Lieder / im Umlauf von den Wohltaten / des Vergessens, ihr Schönklang entschuldet die Mörder ist im Gedicht Altes Liedgut zu lesen, und weiter unten: Wie oft hat sich eins / meine Stimme geborgt, / als sie noch laut war/ und schön, ich hörte mich / singen und wusste nicht, / wer ich bin.
Neumanns Gedichte machen aus der Unsicherheit des Daseins kein Hehl, aber das lyrische Ich zeichnet sich stets aus durch einen gewissen Optimismus, nicht selten auch durch Galgenhumor, hat jedenfalls meistens gute Laune und guten Mut. Ins Neue Jahr /// Komm mit, / wir fragen / uns durch.
Am meisten aber zeichnet diesen handwerklich souveränen Dichter immer wieder seine Subjektivität aus. In Neumanns Gedichten ist das lyrische Ich meistens präsent, viele seiner Gedichte sagen immer wieder Ich:
In Venedig /// Paarungsgerüche / vom Fischmarkt her, / auf der Brücke drängeln sich / die Masken. Hier ging Petrarca / durch den Carneval. // Kein Ort geeigneter / als der, abwesend hier zu sein. / Ich trag als Maske / mein Gesicht und bleibe.
Neumann war subjektiv als Professor. Er ist es auch als Dichter.

Erwin Messmer

Kasten 1
Biographische Notiz

Peter Horst Neumann, Lyriker und Literaturwissenschaftler, wurde 1936 in Neisse / Oberschlesien geboren. Von 1968 bis 2001 war er Professor für Literaturgeschichte an den Universitäten Freiburg / Schweiz, Giessen und Erlangen.
Für seine seit 1994 erschienenen Gedichtbände erhielt er 1996 den Eichendorff-, 1998 den Nikolaus-Lenau-Preis und 2001 den Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen. Er ist Mitglied der Bayrischen Akademie der Schönen Künste und lebt in Nürnberg.

Kasten 2
Bibliographie:

Pfingsten in Babylon. Gedichte. Residenz Verlag, Salzburg und Wien, 1996.
2. Auflage: Rimbaud Verlag Aachen, 2005.

Die Erfindung der Schere. Gedichte. Bücherhaus im Bargfeld, Bargfeld, 1999
2. Auflage: Rimbaud Verlag Aachen, 2005, zusammen mit "Pfingsten in Babylon“).

Auf der Wasserscheide. Gedichte. Rimbaud Verlagsgesellschaft, Aachen, 2003

Was gestern morgen war. Gedichte, Rimbaud, 2006

Die allegorische Spinne. Kleine Lesereise zum eigenen Gedicht. Edition Toni Pongratz, Haunzenberg, 2006. 2. Ergänzte Auflage, 2007.
In dieser bibliophilen Broschüre (numerierte und signierte Auflage von 500 Exemplaren) unternimmt der Autor den heiklen, aber durchwegs geglückten Versuch, einzelne seiner eigenen Gedichte zu befragen, ihren Werdegang zurückzuverfolgen, sie zu interpretieren. Ein Buch, das mit seinen unprätentiösen Annäherungen an eigenes Schaffen viel zum Leseverständnis der Neumannschen Poesie beitragen kann .

Einen Eindruck von Neumanns essayistischer Brillanz und literaturwissenschaftlicher Kompetenz, wie sie der Schreibende als Literaturstudent bei ihm in den Vorlesungen erlebt hat, geben die beiden sehr lesenswerten folgenden Essaybände. Wie immer fehlt bei Neumann das Überraschungsmoment nie. So erfährt man etwa, wie sehr Robert Musil Rainer Maria Rilke schätzte, und wie kein Geringerer als Gottfried Benn dem heute zu Unrecht oft als abgehoben verschrieenen Dichterfürsten seine Referenz erwies, indem er Rilke ausdrücklich den Wie-Vergleich als legitimes stilistisches Mittel, das sich kraft seiner dichterischen Potenz von selbst rechtfertige, posthum zugestand (Essay „Allmächtige Gleichnis-Schöpfer. Zur Krise des Vergleichs in der literarischen Moderne.“ In: Erlesene Wirklichkeit, S. 12). Oder man liest mit Spannung und Erstaunen, was Wolfgang Hildesheimer mit Stefan George verband.

Erschriebene Welt. Essays und Lobreden von Lessing bis Eichendorff. Rimbaud, 2004

Erlesene Wirklichkeit. Essays und Lobreden von Rilke, Brecht und George bis Celan, Jandl und Ilse Aichinger. Rimbaud, 2005

Textbeispiele

Die allegorische Spinne

Es hängt ihr Netz
an ungeschütztem Ort.

Wer sich verfängt, verwest
am leichten Faden.

Wer sich befreit, zerstört
den schönen Text.

Kein andrer
hat ihn je verstanden.

(aus: Pfingsten in Babylon)

Mit einem Hundertgrammgewicht,
geeicht mit dem Markuslöwen

O schöne Messingzeit –
als sie ihr Liebesleid
noch wogen, Glück erlitten,
und zehn von seiner Art
ein Kilo Fleisch,
aus einer Brust geschnitten
nächst dem Herzen,
in Schwebe hielten
auf der Waage.

(aus: Pfingsten in Babylon)

Die Erfindung der Schere

Und wieder
lag dein Messer
über meinem,

wir prüften
ihre Schärfen
Haut an Haut,

wir kreuzten
sie zum aber-
letzten Mal,

nicht scharf
genug, zu schneiden
was uns hält.

Kriegskind

Ein Klumpfuss
hat mir den Vater geschenkt,
er musste nicht in den Krieg.

Als ich erfuhr, dass Ödipus
Klumpfuss heisst, war’s
für Komplexe zu spät und
das Morden der Väter vorbei.

(aus: Auf der Wasserscheide)

Altersheim für Lokomotiven

So viel
zu erzählen.

Erfahrung
Erfahrung.

Und alles
auf Schienen.

(aus: Auf der Wasserscheide)

Schlesische Sommerfrische 1943

Das Pferd hat den brennenden
Wagen zum Löschteich gezogen,
der Bauer lag tot im Heu.

Das war noch mitten im Frieden
und sie erzählten es gern.

Am Abend wurden die Hühner gezählt,
die Milch in der Küche geschleudert.

In der Scheune die mährischen Schnitter,
die sich morgens am Brunnen wuschen.

Die Mägde schliefen im Haus,
ein Spucknapf in jeder Kammer,
was ging mich das an.

Den Kleinknecht hatte ein Dresch-
flegel über der Schläfe getroffen,
der brauchte nicht in den Krieg.

Im Braunhemd spielte die Lehrerin
zur Sonntagsmesse die Orgel,
zwei Knabenfüsse traten den Balg.

Heuwarme Nächte.

Der Hund gab leise Laut,
wenn auf der Leiter nachts der Hahn
sein Schlafbein wechselte.

In der Diele die Erntekronen,
knisternde Bauerngebete aus Stroh.

(aus: Was gestern morgen war)

Am Grabe des
(4. April 2005)

Die andern hatten Blumen,
ich nur mein trocknes Tränentuch.

Ich schlug einen Knoten hinein
und warf es ihm nach.

(aus: Was gestern morgen war)

Erschienen in orte 152